GUT ZU WISSEN: DER WEG FÜR NEWCOMER ZU ÖFFENTLICHEN AUFTRÄGEN
Für sogenannte „Newcomer“, also neu oder erst kürzlich gegründete Unternehmen, können die Wettbewerbsbedingungen eines Vergabeverfahrens echte Zutrittshürden zum Markt um öffentliche Aufträge darstellen. Das gilt besonders für die vom Auftraggeber aufgestellten Eignungsanforderungen. Standardmäßig müssen die Bieter Referenzen über vergleichbare Aufträge der letzten drei Jahre nachweisen.
Grundsätzlich haben Auftraggeber das Recht, einen solchen Erfahrungsnachweis zu verlangen. Damit stellen sie sicher, dass der Zuschlag nur an ein Unternehmen erteilt wird, das auch in der Lage ist, den Auftrag auszuführen. Die Vergabestelle kann die Bewerbung von "Newcomern" jedoch durch eine entsprechende Gestaltung der Ausschreibung fördern – dazu ist sie nicht nur berechtigt, sondern ihr kommt dabei ein weiter Beurteilungsspielraum zu.
Das zeigt eine Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt (Beschluss vom 01.10.2020 – 11 Verg 9/20). Der Beschluss bestätigt zugleich den Trend in der Rechtsprechung, den Ausschlussgrund der unzulässigen Änderung der Vergabeunterlagen durch ein Angebot nicht rein formalistisch zu verstehen.
Der Fall
Der Auftraggeber schrieb die Sammlung und den Transport verschiedener Abfallfraktionen in zwei Losen aus. Die Verträge sollten jeweils eine Laufzeit von vier Jahren haben bei einer Option, diese zweimal um je zwei Jahre zu verlängern. Einziges Zuschlagskriterium war der Preis. Zum Nachweis ihrer Eignung hatten die Bieter laut der Bekanntmachung mindestens zwei Referenzen über den Auftragsgegenstand zu erbringen. Wörtlich hieß es in der Bekanntmachung:
„Sofern der Bieter (noch) nicht über hinreichende Referenzen im Bereich der abfallwirtschaftlichen Leistungen verfügt („Newcomer“), kann er weitere Angaben machen, warum er sein Unternehmen für ausreichend fachkundig und leistungsfähig für die Erbringung der abgefragten Leistungen hält. Hierzu muss er weitere geeignete Unterlagen, Bescheinigungen etc. einreichen. In jedem Fall sind die für die Durchführung des Auftrags verantwortlichen Personen zu benennen. Diese müssen über persönliche Referenzen in den letzten 3 Jahren verfügen, die sich auf vergleichbare Leistungen beziehen und geeignet sind, die Referenzen des Bieters zu ergänzen oder zu ersetzen. Hierauf kann nur verzichtet werden, wenn sich die Fachkunde aus anderen unternehmensbezogenen Angaben zur Fachkunde und Leistungsfähigkeit in vergleichbarer Weise ergibt.“
Die Vergabeunterlagen sahen im Hinblick auf eine Preisanpassungsklausel im Entsorgungsvertrag vor, dass die Bieter in ihrem Angebot neben den Fixkosten die tatsächliche prozentuale Gewichtung der Personal-, Kraftstoff- und Instandhaltungskosten angeben mussten. Der Fixkostenanteil musste dabei „mindestens“ 30 % betragen, wobei die Summe der Kosten einschließlich des Fixkostenanteils 100 % ergeben musste.
Wegen der vergleichsweise langen Vertragslaufzeit sollte eine eventuelle Preisanpassung hinsichtlich der einzelnen Kostenbestandteile auf der Grundlage bestimmter Indizes des Statistischen Bundesamtes vollzogen werden. Eine Vorgabe, welcher prozentuale Anteil des Gesamtpreises auf die zu indizierenden Kosten entfallen sollte, fehlte. Aufgrund der Vorgabe, mindestens 30 % des Preises fix anzubieten, waren die Bieter faktisch gezwungen, die Kosten für Personal etc. anteilig der Indizierung zu entziehen.
An der Ausschreibung beteiligten sich unter anderem die spätere Antragstellerin und die spätere Beigeladene, eine Bietergemeinschaft. Die Beigeladene gab in ihrem Angebot die Fixkosten mit „100 %“ und bei den übrigen drei Kostenbestandteile jeweils „0 %“ an. Nur ein Mitglied der Beigeladenen hatte ihren Geschäftsführer als verantwortliche Person benannt und die von ihm verantworteten Projekte aufgelistet.
Der Auftraggeber bat daraufhin um nähere Angaben zu einzelnen Referenzen der Beigeladenen. Dem kam die Beigeladene nach. Sie sollte den Zuschlag erhalten. Dies rügte die Antragstellerin: Die Beigeladene verfüge nicht über die geforderten Referenzen; außerdem habe sie einen realitätsfernen Anteil an Fixkosten in ihrem Angebot angegeben. Der Auftraggeber half der Rüge nicht ab.
Die Antragstellerin strengte ein Nachprüfungsverfahren an. Die Vergabekammer (VK) Hessen gab der Antragstellerin Recht (Beschluss vom 01.07.2020, 69d VK2-32/2020): Das Angebot der Beigeladenen sei wegen unzulässiger Änderungen an den Vergabeunterlagen gemäß §§ 57 Abs. 1 Nr. 4, § 53 Abs. 7 Satz 1 der Vergabeverordnung (VgV) zwingend auszuschließen.
Gegen den Beschluss der Vergabekammer wandte sich die Beigeladene mit der sofortigen Beschwerde. Nach den Vergabeunterlagen sei es keineswegs zwingend gewesen, neben den Fixkosten die weiteren Kostenpositionen variabel anzugeben; welche Kosten ein Bieter als fix und welche er als variabel kalkuliere, sei dessen Kalkulationsfreiheit.
Die Entscheidung
Die sofortige Beschwerde hatte Erfolg. Nach Auffassung des OLG Frankfurt war das Angebot des Beigeladenen weder wegen unzulässiger Änderung der Vergabeunterlagen noch wegen fehlender Eignung auszuschließen. Die Beigeladene hatte für alle Teilbereiche und Kostengruppen tatsächlich einen Anteil von 100 % Fixkosten angenommen.
Das sei zwar ungewöhnlich, so das Gericht, aber nicht unzulässig, da hier von der Beigeladenen plausibel erläutert worden. Auch ergebe sich aus den Vergabeunterlagen nicht zwingend, dass hinsichtlich der drei Kostenblöcke mit variablen Kosten zu kalkulieren war. Vielmehr könnten Vergabeunterlagen so ausgelegt werden, dass auch ein reines Fixkostenangebot zulässig sei.
Wie der Wortlaut der Klausel in den Vergabeunterlagen zeige, war die Aufteilung der variablen Kostenbestandteile nur für die jeweils unterschiedliche Preisanpassung von Bedeutung. Solle jedoch während der Vertragslaufzeit überhaupt keine Erhöhung stattfinden, erübrige sich auch die Aufteilung in verschiedene Kostenbestandteile, so das OLG.
Im Übrigen diente die gewünschte Prozentangabe offensichtlich nur dazu, für den Auftraggeber klarzustellen, in welchem Umfang er während der Vertragslaufzeit mit Preisänderungen entsprechend der vorgegebenen Indizes zu rechnen habe. Gerade der Umstand, dass „mindestens“ 30 % der Preisanteile fix anzubieten seien, spreche dafür, dass es den Bietern überlassen war, über die 30 % hinauszugehen und sogar ein zu 100% fixes Angebot einzureichen.
Das Angebot der Beigeladenen war auch nicht wegen fehlender Eignung auszuschließen. Welche Anforderungen an die Eignung gestellt werden, bestimmt der Auftraggeber durch entsprechende Vorgaben in der Ausschreibung. Dort legt er auch die Nachweise fest, anhand derer er die Prüfung der Eignung vornehmen will. Der Vergabestelle komme bei der Prüfung der Eignung eines Bieters grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum zu, der der Überprüfung durch die Nachprüfungsinstanzen weitgehend entzogen sei, betont das Gericht.
Das gelte insbesondere für die Überprüfung der Referenzen und die Beurteilung von deren Vergleichbarkeit. Die Bewertung des Auftraggebers, die Beigeladene für den ausgeschriebenen Auftrag als geeignet anzusehen, halte sich innerhalb dieses Beurteilungsspielraums. Zwar habe die Antragstellerin zu Recht gerügt, dass die Beigeladene nicht über die geforderten zwei Referenzen verfüge.
Der Auftraggeber habe sich jedoch ausdrücklich vorbehalten, den Auftrag auch an sogenannte „Newcomer“ zu vergeben. Er habe daher zurecht die von der Beigeladenen nachgereichten Angaben und Unterlagen berücksichtigt. Aufgrund der Vorgaben in der Bekanntmachung sei er berechtigt gewesen, eine Gesamtschau auf der Grundlage aller vorgelegter Referenzen vorzunehmen.
Dabei durfte der Auftraggeber aufgrund eigener Erfahrung und aufgrund stichprobenartig vorgenommener telefonischer Referenzabfragen davon ausgehen, dass die Referenzaufträge generell ordnungsgemäß ausgeführt worden seien. Es sei insgesamt nicht zu beanstanden, dass der Auftraggeber die Anzahl der erfolgreich durchgeführten Sammelaufträge und – die allein schon für diese Anzahl erforderlichen – Koordinierungsleistungen jedenfalls im Zusammenschau mit den anderen Anforderungen als ausreichenden Nachweis der Leistungsfähigkeit betrachte.
Die Bedeutung für Bieter
„Newcomer“ müssen vom Auftraggeber nicht stets darauf verwiesen werden, öffentliche Aufträge wegen mangelnder Erfahrung allein als Mitglied einer Bietergemeinschaft oder als Subunternehmer für einen anderen Bieter zu erlangen. Auftraggeber, die eine „Belebung“ des Marktes für öffentliche Aufträge bewusst fördern wollen, können und dürfen dies tun, wie die Entscheidung des OLG Frankfurt zeigt.
Auftraggeber sind vergaberechtlich, schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit, gehalten, Eignungskriterien und Nachweise mit Augenmaß aufzustellen, sonst droht eine künstliche Beschränkung des Bewerberfeldes. Eignungsanforderungen, die – gemessen am Auftragsgegenstand – ungerechtfertigt oder überzogen erscheinen, können von den Unternehmen gerügt werden.
Die Entscheidung illustriert zugleich einmal mehr, dass Unternehmen bei der Erarbeitung ihres Angebotes die Vergabeunterlagen penibel studieren sollten, um maßgeschneidert kalkulieren zu können. Bei Unklarheiten empfiehlt sich, eine Bieterfrage zu stellen oder eine sogenannte Aufklärungsrüge zu erheben.
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